Eine neue Elternkultur braucht Orientierung

Einleitung

Kinder in ihrem Wachstum und ihrem Leben zu begleiten stellt uns Eltern vor herausfordernde Aufgaben und Fragen. Dabei sind wir nicht allein auf uns gestellt. Die Kultur, in der wir leben, spielt eine entscheidende Rolle.

Kultur hat eine Aufgabe. Einen Sinn. Einen Zweck. 

Die jeweilige Kultur schafft einen Orientierungsrahmen, an dem Eltern sich natürlicherweise orientieren (sollten). Dafür ist Kultur da. Sie vermittelt uns ein Rollenverständnis, lenkt durch Bräuche, Wertesysteme und Rituale und gibt uns damit Sicherheit und Rückhalt. Deshalb begegnen uns immer wieder Sätze wie “das ist normal“ oder “das macht man so“. Ein kultureller Schutzmechanismus sozusagen.

Was aber, wenn sich unsere eigene Kultur mit ihren Rollen und Werten nicht mehr stimmig anfühlt. Wenn die gelebte Kultur sich nicht mehr mit unserer Intuition deckt oder wir abweichende Rollenvorstellungen und Werte besitzen.

Wenn wir uns von der traditionellen Erziehungskultur abwenden, verlieren wir unseren Orientierungsrahmen, unser Bezugssystem. Dann verlieren wir das, was uns Rückhalt gibt.

Das würde uns in ein Dilemma stürzen. Warum sollten wir so etwas tun?

Warum wir uns von Erziehung abwenden (sollten)

Im Detail könnte ich für die Beantwortung dieser Frage viele Gründe nennen.

Aber ich möchte die beiden Wichtigsten hervorheben.

Auf der einen Seite gibt es eine größer werdende Spannung zwischen Intuition und gelebter Kultur. Während unsere Kultur dem zeitlichen Wandel unterliegt, bleibt unsere elterliche Intuition die Gleiche. Es ist die Gleiche,  wie vor hunderttausenden von Jahren. Beinahe die komplette Menschheitsgeschichte (99 %) verbrachten wir in Jäger- und Sammlerkulturen. Über diesen langen Zeitraum entstand ein Reichtum an kultureller Weisheit über die menschlichen Entwicklungsbedingungen.

Von diesen kulturellen Weisheiten ist heute nicht mehr viel übrig. Im Zuge der einschneidenden gesellschaftlichen Transformationen (Ackerbau & Viehzucht →  Industrialisierung → Globalisierung und Ökonomisierung und letztlich die Digitalisierung) wandelten sich Werte, Bräuche und Rollenverständnisse. Vieles davon steht nicht mehr im Einklang mit der Entfaltung menschlicher Potenziale oder der elterlichen Intuition (darüber schreibe ich im Artikel “Ökonomie der Kindheit”).

Deshalb fällt es auch allen Eltern gleichermaßen schwer, wenn eine Kultur von ihnen verlangt, ihre Säuglinge in einem externen Raum schreien zu lassen bis sie “einschlafen“. Hier nicht einzugreifen geht gegen unsere Intuition, kann aber fester Bestandteil der Kultur sein (siehe “jedes Kind kann schlafen lernen“).

So gibt es viele weitere Beispiele, in der die traditionelle Erziehungskultur uns dazu auffordert, gegen unsere elterliche Intuition zu handeln.

  • Wir sehen und spüren den Hunger nach Nähe und Kontakt und sollen sie doch so früh wie möglich abgeben.

  • Wir sehen und spüren die Lust auf das absichtslose Spiel und sollen sie doch zum zweckorientierten Lernen oder Arbeiten bewegen.

  • Wir sehen und spüren die Notwendigkeit für emotionalen Ausdruck und halten sie doch dazu an, diesen zu unterdrücken.

  • Wir sehen und spüren welche Magie in den natürlichen Entwicklungsdynamiken steckt, auf die wir vertrauen können und dennoch bestimmen Angst und Kontrolle unser Vorgehen.

Es ist diese gefühlte Spannung, die den Impuls in uns weckt, unsere eigene Kultur infrage zu stellen.

Auf der anderen Seite gibt es ein größer werdendes Bewusstsein über die Schattenseiten der traditionellen Erziehung. Dieser Umstand wird durch die verhältnismäßig lange “Friedenszeit“ begünstigt. Man muss in der Geschichte schon lange zurückgehen, um ein Jahrhundert zu finden, in dem keine Kriege geführt wurden.

Geprägt durch Krieg, Existenzängste und Traumata lag der Fokus der Erziehung über viele Jahrhunderte vorrangig darauf Kinder “groß“zuziehen. Sie überlebensfähig und funktionstüchtig zu machen. Es ist noch nicht lange her, da war es nicht selbstverständlich, dass ein Kind auch sicher das Erwachsenenalter erreicht. Die Frage nach der Entfaltung menschlicher Potenziale spielte gar keine Rolle.

Solange der Sprössling nicht tot, kriminell, drogensüchtig oder arbeitslos war, hatte man die Bestätigung, alles richtig gemacht zu haben. 

Schauen wir aber genauer hin und ziehen wir wissenschaftliche Erkenntnisse hinzu, werden die gravierenden Schattenseiten der traditionellen Erziehung deutlich.

Unreife, impulsive Erwachsene,

mit tiefen emotionalen Verletzungen,

die sich bis zur Unkenntlichkeit anpassen und empfänglich für Manipulation sind,

die sich trotz aller Freiheit nicht als Gestalter ihres eigenen Lebens sehen.

Ganze Generationen, die bei der Zerstörung und Ausbeutung des Planeten zusehen und mitmachen, ohne die Folgen zu reflektieren.

Was tun wir also, wenn wir die Schatten erkennen oder unsere Intuition Alarm schlägt? Wenn wir uns nicht mit einer Kultur der Erziehung und Anpassung, einer Kultur von Gewalt und Machtmissbrauch identifizieren wollen?

Wir wenden uns ab. Wir geben unseren Orientierungsrahmen freiwillig auf. Aber wie gehen wir damit um?

Auf der Suche

Wir begeben uns auf die Suche nach einem neuen Orientierungsrahmen. Bewusst oder unbewusst.  Vielleicht liest du deshalb gerade diesen Artikel?

Jede*r von uns braucht und sucht Orientierung.

Deshalb können viele Eltern den traditionellen Erziehungsstil nur schwer loslassen. Es bedeutet nämlich einen Schritt ins Ungewisse zu machen. Es bedeutet einen zusätzlichen Aufwand. Wir müssen uns dann einen neuen Orientierungsrahmen zusammenbasteln, denn ganz ohne funktioniert es nicht.

So suchte auch ich, wie viele von euch, die sich von der traditionellen Erziehungskultur abwenden, nach Orientierung in Büchern und Bewegungen. Ich stieß auf viele interessante Ansätze wie das Attachment Parenting, GFK, die Freilerner oder die Unerzogen- oder Artgerecht-Bewegung. Ich las unzählige Bücher von Remo Largo über Jesper Juul, Andre Stern bis Gerald Hüther und Alfie Kohn. Und auch wenn ich vielen darin beschriebenen Aspekten zustimme, so fehlte mir oft ein konkreter Rahmen. Es war für mich oft zu schwammig, als dass ich darin Orientierung gefunden hätte.

Im Zustand der Orientierungslosigkeit sind wir sehr empfänglich für Anweisungen und suchen oft eine schnelle Lösung. Die mit Abstand häufigste Frage, die mir begegnet ist:

“WAS SOLL ICH TUN, wenn [……]“

Dabei führen die Antworten darauf häufig zu enormen Missverständnissen. Oft wird dann etwas ideologisch verfolgt, ohne dass es wirklich im Kontakt mit der eigenen Intuition ist. Häufig begegne ich …

  • Eltern, die sich krampfhaft zwingen Ich-Botschaften zu formulieren, ohne den Platz in sich zu finden, von dem aus sie gesprochen werden sollten.

  • Eltern, die glauben, dass Tragen, Familienbett und Langzeitstillen automatisch und unweigerlich zu einer guten Bindung führt.

  • Eltern, die sich einzig an den “Bedürfnissen“ ihrer Kinder abarbeiten, bis sie erschöpft im Burnout zusammenbrechen.

  • Eltern, die ihre Kinder gleichberechtigt und auf Augenhöhe begegnen wollen und darüber verzweifeln, dass dies nicht automatisch zu einem achtsamen und harmonischen Umgang führt.

Ich glaube, ich habe dafür eine geschärfte Wahrnehmung entwickelt, weil alle Sätze am Ende des ersten Lebensjahres auch auf mich zugetroffen haben.

Eine neue Elternkultur braucht einen soliden Orientierungsrahmen

So bin auch ich mich im ersten Jahr durch einige Missverständnisse und Fehler durchgegangen, ohne jemals das Gefühl zu haben, wirklich einen soliden Kompass für den Umgang mit unserem Sohn zu haben. Fündig bin ich letztlich in der intensiven Auseinandersetzung mit den Grunddynamiken von Bindung, Emotionen und Spiel geworden (die Gordon Neufeld in seinem bindungsbasierten Entwicklungsansatz zusammenfügt). Er beschreibt die Essenz einer jeden Dynamik und fügt anschließend die Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammen. Dabei geht es nicht um irgendein abstraktes Spezialwissen, Ratschläge oder Anweisungen. Nein, es geht um Einsichten die einen tief sitzenden Platz in uns berühren. Unsere Intuition.

Intuition beschreibt er als Wissen, für das wir keine Sprache besitzen. Worte wie Bindung waren nicht notwendig, solange die Kultur funktionierte. Hat unsere Kultur aber den Zugang zu diesem Wissen verloren, so müssen wir den Umweg über die Worte finden. Und genau hier spielt  sich die Magie ab. Wenn wir uns mit den Themen Bindung, Emotionen und Spiel auseinandersetzen, gehen die Worte in Resonanz mit uns, weil wir das Wissen bereits in Form der Intuition in uns tragen.

Das ist das Ziel, dass ich mit meiner Arbeit verfolge. Anderen Eltern zu helfen ihre eigene Intuition wiederzuentdecken oder freizulegen. Das ist der Weg, der mir Halt gegeben hat.

Von der Einsicht zur Intuition. Mit Herz und Verstand.

Das schafft einen soliden Orientierungsrahmen, an dem wir uns ausrichten können, auch gegen den ständig reißenden Strom der Erziehung, der an uns zerrt.

Einer allein macht noch keine Kultur

Deshalb freue ich mich über die immer größer werdende Anzahl an Eltern, die sich bewusst mit den Themen Bindung, Emotionen und Spiel auseinandersetzen und sich auf den Weg machen, in Kontakt mit ihrer Intuition zu kommen.

Ich hoffe, dieser Artikel ist dafür hilfreich.

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