Schwierige Phasen – Immer wieder ruckelt es

Einleitung

Immer wieder tauchen sie auf.

Wie aus dem Nichts.

Phasen, in denen urplötzlich jede Interaktion mit unseren Kindern schwierig wird. Ich sage gerne: Phasen, in denen es ruckelt. Sachen, die vorher unproblematisch und reibungslos funktionierten, werden auf einmal zum puren Stress- und Geduldstest. Sei es Anziehen, Zähne putzen, Unterwegs sein, Spiele oder etablierte Schlafrituale. Wo wir uns gestern noch in einer harmonischen, gut eingestimmten Beziehung glaubten, herrscht heute Frustration, Unverständnis und Wut.

Es ist, als wären unsere Kinder andere Menschen.

Auch wir sind gerade am Ende einer solchen Phase, weshalb es mir ein Anliegen ist, die folgenden Zeilen mit euch zu teilen und auf die Fragen einzugehen, woher diese Phasen kommen und wie wir damit umgehen können?

Woher kommen die Ruckler?

Nun tatsächlich ist es so, dass wir alle als “neue” Menschen aufwachen, nachdem wir schlafen gehen. Wir haben die Erfahrungen eines ganzen Tages hinzugewonnen und diese fließen in unser Wesen ein.  Jedes Erlebnis verändert uns auf irgendeine Weise.

Wir wachen eben nicht als der Mensch auf, der wir gestern noch waren. 

Diese Veränderung sind jedoch oft so klein, dass sie unserer Wahrnehmung verborgen bleiben. Genauso wenig können wir einer Pflanze beim Wachsen zuschauen, völlig egal wie lange wir davor sitzen bleiben. Erst im Rückblick, über einen gewissen Zeitraum, können wir feststellen, dass sich etwas verändert hat (die Pflanze gewachsen ist).

Immer wieder denke ich bei hierbei an das eindrucksvolle Zitat von Bernard Shaw (Nobelpreisträger für Literatur 1925), der sagte:

“Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider.Er nimmt jedesmal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen immer die alten Maßstäbe anlegen in der Meinung, sie paßten auch heute noch.”

Genau darum geht es in diesen “Ruckel-Phasen”. Es geht darum, neu Maß zu nehmen, sich neu aufeinander zu beziehen. Wir begegnen nicht derselben Person, der wir gestern begegnet sind. Natürlich gestaltet sich dieser Prozess der Veränderung bei jungen Menschen, die so vieles neu oder zum ersten Mal erleben deutlich dynamischer als bei uns.

An dieser Stelle stoßen wir auch an unser verdrehtes Bild von Entwicklung. Wir stellen uns Entwicklung als einen schönen geradlinigen Prozess vor, bei dem jeder neue Schritt klar definiert und vorhersehbar ist. Das hat allerdings nicht viel mit der Realität zu tun.

“Menschliche Entwicklung (verstanden als tiefgreifender Transformationsprozess) ist immer auch chaotisch und unvorhersehbar. ”
— Emil Zitlau

Wir kommen in der Begleitung von Kindern immer wieder in diesen Zustand, in dem das Alte nicht mehr passt und das Neue noch nicht da ist. Und dieser Zustand ist nicht leicht auszuhalten. Wir haben die Verantwortung darauf angemessen zu reagieren.

Immer wieder erfordert dies von uns, uns neu auf die jungen Menschen einzustellen. 

Immer wieder stehen wir vor der Herausforderung Gewohnheiten und Abläufe auf den Prüfstand zu stellen und neu zu regeln, wenn sie nicht mehr passen. So haben wir in den letzten Jahren bestimmt 10 verschiedene Zahnputz-Rituale gebraucht, da beinahe jedes Ritual irgendwann seine Haltbarkeit überschreitet.

Transformation im Spannungsfeld

Diese “Ruckel-Phasen” sind ein natürlicher Teil der menschlichen Entwicklung. Wir dürfen die Wertschätzung dafür, was sich tagtäglich vor unseren Augen abspielt, nicht verlieren. Die menschliche Entwicklung ist eine tiefgreifende Transformation und vollzieht sich in einem enormen Spannungsfeld.

Auf der einen Seite kommen wir als das wohl abhängigste Wesen des Planeten zur Welt, das für sehr lange Zeit auf Bindung, Schutz und Fürsorge angewiesen ist. Auf der anderen Seite bewegen wir uns auf das “Ziel” zu, ein selbständig handelndes und denkendes Individuum zu werden, mit all den Eigenschaften, die wir uns von reifen Erwachsenen wünschen.

Zwischen diesen beiden Polen herrscht eine gigantische Spannung, dass jeder junge Mensch und seine begleitenden Personen durchlaufen. Dabei wechselt der Schwerpunkt immer wieder zwischen Phasen der harmonischen Bindung und Phasen der chaotischen Individualisierung (Autonomie). Es ist genau dieser Wechsel der uns oft überrascht und unvorbereitet trifft. Aber diese Phasen sind unerlässlich auf dem Weg zu einem eigenständigen reifen Erwachsenen.

Wie gehen wir damit um?

Die Antwort auf diese Frage klingt vergleichsweise simpel. Unsere Aufgabe ist es, diese Phasen auszuhalten bis sie wieder vorübergehen. Oft kommt die Sorge hoch, dass plötzlich alles den Bach runtergeht oder das Chaos für immer bleibt. Das kann sich in diesen Phasen nach einigen Tagen tatsächlich so anfühlen und wir wollen gegensteuern. Wir reagieren auf jede Kleinigkeit gereizter, lassen weniger durchgehen und halten krampfhaft an irgendwelchen Regelungen fest. Wir haben das Gefühl, wenn wir jetzt nicht drastisch gegensteuern könnte der zukünftige Kurs in die falsche Richtung laufen. Wie aber jeder gute Kapitän weiß, gilt es bei aufziehendem Sturm den angepeilten Kurs zeitweise ruhen zu lassen und sich einzig und allein darauf zu konzentrieren die Beziehung zwischen Wasser und Schiff zu bewahren. Und zwar so, dass das Schiff auf dem Wasser bleibt.

So gilt auch für uns in stürmischen Zeiten in erster Linie, der Beziehung keinen Schaden zuzufügen. Das sollte mitten im Chaos unsere einzige Agenda sein. Die einzige Richtung, die von Bedeutung ist. Die restliche Arbeit vollbringt die Natur.

Auch wenn die Antwort simpel ist, so ist sie doch nicht leicht. Es sind leider genau diese Phasen, die oft Dellen im Beziehungsgeflecht hinterlassen können. Dabei müssen wir nicht grundlegend alles auf den Kopf stellen. Auf eine “Ruckel-Phase” (Individualisierung) folgt in der Regel wieder eine Phase, die leichter und harmonischer abläuft (Bindung). Es geht hier um Vertrauen. Vertrauen in die natürlichen Dynamiken. Vertrauen darin, dass nach jedem Winter wieder ein Frühling folgt, in dem alles wieder aufblühen wird. Ohne dieses Vertrauen wäre die Kargheit und die Abstinenz des Lebendigen im Winter kaum auszuhalten. Es ist dieses Vertrauen, dass uns die “harten Zeiten” überstehen lässt.

Diese Zuversicht hat mir in den letzten Wochen sehr geholfen, die starken Ruckler durchzustehen. Nach einigen Wochen hat sich Vieles wieder beruhigt, ohne dass es von unserer Seite enorme Veränderung oder Eingriffe erfordert hat. Aber es erfordert ein Aushalten und ein tiefes Vertrauen in die natürlichen Prozesse. Das ist nicht immer leicht.

Ich wünsche euch allen (und mir selbst auch 🙂 ) viel Geduld und Durchhaltevermögen für die nächsten Ruckel-Phasen. Ich hoffe, ihr konntet in diesem Artikel etwas mitnehmen, dass euch in schwierigen Zeiten Halt gibt.

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