Brettspiele – Wie wir das kindliche Spiel (zer)stören

Wenn ich in meinen Kursen und Vorträgen nach verschieden Arten des Spielens frage, dann werden auch stets Brettspiele genannt. Dabei sorgt unsere Vorstellung von Spielen dafür, dass das kindliche Spiel kaputt gemacht wird. Das ist auch an den wiederkehrenden Berichten von Eltern erkennbar. Kinder, die bei Brettspielen anfangen zu weinen, zu schreien, „zu schummeln“ und zu wüten. Klingt diese Beschreibung nach einem Spiel? Wohl kaum.

Ich persönlich liebe Brettspiele und zu Spieleabenden unter Freunden sage ich nie nein 😊. Aber bei uns Erwachsenen dreht es sich im Kern mehr darum, zusammenzukommen und Zeit miteinander zu verbringen.

Die Ausführungen in diesem Artikel beziehen sich vorwiegend auf jüngere Kinder (unter 7). Zwar trifft ein Teil davon auch auf ältere Kinder (und Erwachsene) zu, aber es ergeben sich auch große Unterschiede, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehe.

Brettspiele KÖNNEN eine wunderbare Art des Spielens darstellen, wenn wir es nicht kaputt machen.

Aber was meine ich damit? Was zerstört das kindliche Spiel?

Es sind zwei Aspekte, auf die ich eingehen möchte und zwar das Thema Regeln und der Bereich der Ziele.

Regeln sind ein natürlicher Bestandteil des Spiels.

Das sollte bei dem ein oder anderen hoffentlich für Beruhigung sorgen. Spielen bedeutet nicht die Abstinenz von Regeln.

Regeln sind ein fester Bestandteil des Spiels. Insbesondere beim sozialen Spiel. (Dabei bedeutet „sozial“, dass mehr als eine Person beteiligt ist.) Wir können bereits bei sehr jungen Kindern beobachten, dass sie das Konzept von Regeln im Spiel verstehen und diese auch beachten.

Wenn ich im Spiel mit einem zweijährigen so tue, als seien die Stöcke Autos, die über eine Straße fahren und ich dann plötzlich anfange darauf herumzukauen, sorgt das beim Kind für Irritation. Wir hatten doch die REGEL, dass die Stöcke Autos sind und auf Autos kaut man nicht rum. Diese Irritation zeigt deutlich, dass bereits junge Kinder Regeln begreifen, einbeziehen und Regelmissachtungen wahrnehmen.

Nun kommt aber ein weiterer wichtiger Aspekt des Spiels hinzu. Und zwar, dass Regeln stets variabel sind und sich an das Spiel anpassen (sollten). Wenn ich in der obigen Situation z. B. sage, ich bin jetzt ein Monster, dass versucht alle Autos zu fressen, ist die Irritation beim Kind verflogen und das Spiel wird nahtlos fortgesetzt. Ich habe die Regeln verändert und durch das nahtlose Weiterspielen hat das Kind dieser Änderung wortlos zugestimmt. So entsteht der berüchtigte FLOW, von dem viele Erwachsene hören und von dem sich so viele schwer tun, damit wieder in Kontakt zu kommen. Und das liegt unter anderem am starren Festhalten aufgestellter Regeln.

Die Regeln müssen sich an das Spiel und die Spieler anpassen und nicht umgekehrt.

Dieser Zusammenhang von Regeln und Spiel ist entscheidend, um das Spiel und den FLOW zu bewahren.

Übertragen wir das nun auf Brettspiele wird schnell klar, wo es da Probleme gibt. Brettspiele beinhalten bereits ein FESTES Regelwerk. Und die meisten Erwachsenen tun sich schwer damit, etwas anderes mit diesem Brettspiel zu tun als das, was in der Anleitung steht.

Kinder hingegen öffnen die Packung, betrachten das Brett und die Figuren und sehen darin unbegrenzte Möglichkeiten. So kann ich z. B. schon gar nicht mehr mitzählen, auf wie viele Arten wir das „verrückte Labyrinth“ gespielt haben. Und jedes Mal bin ich erstaunt und begeistert von den Ideen, die dabei zum Vorschein kommen.

Im Prinzip findet während des (Brett-)Spielens junger Kinder ununterbrochen der oben beschriebene Prozess statt. Regeln werden verändert und passen sich dem Spiel an. Und genau damit sind Erwachsene häufig überfordert, gerade weil jüngere Kinder das besonders häufig tun.

Der Zustand des Spielens beinhaltet die eigenen inneren Impulsen wahrzunehmen und umzusetzen und in jungen Kindern entstehen ununterbrochen neue Impulse. Alle zwei Minuten ist das Spiel schon wieder etwas anders. Das ist z. B. ein Unterschied zu älteren Kindern. Während ältere Kinder länger „Spass“ an einmal ausgemachten Regeln haben, kommen in jüngeren Kindern immer wieder neue Impulse zum Vorschein, die das Spiel formen. Länger als ein paar Minuten finden sie das bestehende Regelwerk oft nicht interessant.

Und darin besteht in gewisser Weise für sie der Kern des Spiels. Sich dem Prozess der Veränderung und Anpassung hinzugeben und zu experimentieren. Eben zu spielen!

An genau dieser Stelle höre ich ihn schon.

Den Satz schlechthin, der in Erwachsenen hochkommt:

„ABER DAS KIND MUSS DOCH LERNEN SICH AN REGELN ZU HALTEN!!!!!!!!!“

Allein diesen Satz hier zu tippen bringt eine tiefe Trauer in mir hervor. Kaum ein Satz steht für so viel Zerstörung von kindlichem Spiel wie dieser. Das Erwachsene das Spiel nutzen wollen, um dem Kind Lektionen zu erteilen, macht mich einfach traurig. Dieser beständige Irrglaube, dass Kinder sich niemals an Regeln halten könnten, nur weil sie im Spiel kreativ damit umgehen.

Die dahinterliegende Haltung repräsentiert auch einen tiefen Makel unserer „erzogenen“ Gesellschaft. So steckt in uns die Prägung, dass etablierte Regeln (Vorgaben) fix sind und wir diese weder ändern können, noch dürfen, ungeachtet dessen, wie veraltet und sinnlos sie uns erscheinen.

Regeln haben einen unbestreitbaren grundlegenden Wert für das miteinander. Aber sowohl im Spiel als auch im Leben sollten sie nie unhinterfragt und unveränderbar bleiben.

„Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung“ sagte bereits Heraklit vor zweieinhalbtausend Jahren und genau das üben Kinder jeden Tag im Spiel ein – wenn wir sie lassen.

Gewinnen und Ziele

Der zweite zerstörende Faktor ist der Fokus auf das Endergebnis oder Ziel. Beim Zustand des Spielens geht es um die Aktivität selbst und nicht um das Ergebnis. Getreu dem Motto: Der Weg ist das Ziel.

Das bedeutet nicht, dass es im Spiel keine Ziele geben darf. Aber im „echten“ Spiel entstehen die Ziele aus uns selbst heraus (intrinsisch) und zweitens müssen sie sich verändern dürfen, entsprechend unseren inneren Impulsen (ähnlich wie bei Regeln). So fangen Kinder im Sandkasten vielleicht mit der Intention an, eine Burg zu bauen, woraus dann vielleicht doch eine Landschaft wird, die sie als Riese durchschreiten oder zerstampfen. Auch hier kommt wieder der FLOW zum Vorschein.

Im Spiel werden die inneren Impulse, so aufgegriffen, wie sie in uns entstehen und können so ineinanderfließen.

So fingen wir z. B. an das verrückte Labyrinth „regulär“ zu spielen, bis unserem Sohn einfiel, dass er ganz bestimmte Karten sammeln wollte (vorher hatte ich einfach verdeckt ausgeteilt). Er hatte für sich selbst ein neues Ziel gefunden, die „coolen“ Bilder zu sammeln. Und natürlich war seine Figur auch ein Zauberer, der „fliegen“ konnte, wenn es sein musste. Ein anderes Mal sollten beide Zauberer zusammen auf die Suche gehen, wobei einer vorausging und der andere folgte. So ergeben sich immer wieder neue Varianten mit neuen Zielen und neuen Regeln.

Stattdessen bedeutet das strikte Spielen von Brettspielen auf ein klar definiertes Ziel, (das von außen kommt – extrinsisch), hinzuarbeiten. Eine Stelle als Erstes zu erreichen oder die meisten Punkte, Edelsteine oder Karten zu sammeln. Das wiederum dient letztlich dem ultimativen Ziel: DEM GEWINNEN!!

Wenn der Fokus auf dem Gewinnen liegt, wird das freie Spiel beeinträchtigt. Nun geht es nicht mehr um die Aktivität selbst, sondern darum, ob die Aktion dazu führt, dass ich schneller am Ziel bin und gewinne.  Alles dreht sich dann nur noch um richtig und falsch, besser und schlechter, gewinnen und verlieren und entspricht nicht dem Wesen des Spiels.

Hier stellt sich die Frage, was wenn beide Spieler unterschiedliche Ziele haben oder Regeln aufstellen? Wie lässt sich das vereinbaren? Genau das ist nämlich häufig das große Problem, wenn jüngere Geschwister miteinander Brettspiele spielen. Sie haben häufig unterschiedliche Impulse, die sich mitunter auch noch gegenseitig ausschließen oder unvereinbar sind. An dieser Stelle möchte ich wieder auf die Unterschiede in der Reife von Kindern hinweisen und dass dieser Artikel sich auf jüngere Kinder (unter 7) bezieht.

Jüngere Kinder tun sich mit dem sozialen Spiel (also mit mehreren Beteiligten) schwer, denn sie kümmern sich wenig um die Regeln und Ziele der anderen. Sie sind voll und ganz mit ihren eigenen Impulsen beschäftigt und das ist auch natürlich. Der Input von außen wirkt da oft hinderlich. Und für sie hört das Spiel an der Stelle auf, ein Spiel zu sein, an der sie ständig damit beschäftigt sind, externe Regeln und Ziele berücksichtigen zu müssen, statt ihre eigenen Impulse ineinanderfließen zu lassen. Würde ich den Impulsen im obigen Beispiel entgegnen: „Nein man kann sich nicht einfach Karten aussuchen, sondern muss immer die obige zuerst suchen“ oder „Nein Zauberer können nicht fliegen und Wände überspringen“, dann würde das für starke Frustrationen und letztlich zum Ende des Spiels führen. Es folgen dann genau die Reaktionen, von denen ich ganz am Anfang schrieb.

Ich habe bei allem mitgemacht, weil es mir im Grunde um die gemeinsam verbrachte Zeit ging (also um die Bindung) und ich genaugenommen kein „echter Spieler“ war.

Was bedeutet das nun für das gemeinsame Spiel von mehreren Kindern? Es bedeutet ganz einfach, dass Brettspiele für das gemeinsame Spielen von mehreren jungen Kindern nur bedingt geeignet sind. Natürlich kann es auch gelegentlich funktionieren, wenn sich alle einig über Regeln und Ziele des Spiels sind oder die Unterschiede dem gemeinsamen Spiel nicht im Weg stehen. Aber das ist bei jungen Kindern eher die Ausnahme. Bei kooperativen Spielen gelingt das zwar oft etwas besser, aber auch da können sich die unterschiedlichen Impulse behindern.

Das ist auch nicht weiter schlimm, wenn es uns auffällt und wir entsprechend darauf reagieren. Wenn das Zustandekommen des Spiels aus den oben genannten Gründen nicht gelingt, dann ist es eben gerade nicht an der Reihe und es braucht vielleicht etwas anderes, anstatt sich in endlose Diskussionen zu verstricken.

Wenn euch der Artikel geholfen hat,

  • euere Kinder besser zu verstehen,

  • neue Einsichten zu gewinnen,

  • euch in eurer Intuition zu bestärken,

  • Überzeugungen zu reflektieren,

  • oder Fragen zu beantworten und neue zu finden,

dann bin ich damit höchst zufrieden.

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Rückmeldungen

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  1. Vielen Dank! Ich weiß noch nicht wie ich es mit unserer dreijährigen Tochter und unserem vierjährigen Sohn umsetzen kann – aber immerhin weiß ich schon Mal, dass ich nicht starr an den Regeln festhalten muss. Danke für die neue Sichtweise und den Impuls zum Umdenken!!!

  2. Danke für dein Feedback Nicole.
    Die Einsicht, die du erwähnst ist glaube ich schon einmal ein sehr guter Schritt. Das bedeutet ja nicht, dass es auch mal feste Regeln in einer Situation geben kann. Aber wie du schreibst, MÜSSEN wir nicht unter allen Umständen daran festhalten. Wenn die Regeln nicht mehr zum Spiel passen, dann dürfen wir da lockerer und kreativer damit umgehen. Wenn du noch konkrete Umsetzungsfragen hast, dann würde ich mich freuen, darüber zu hören.

    Gruß
    Emil

  3. Vielen Dank, dieser Artikel kommt für mich gerade zur richtigen Zeit.
    Mein Sohn ist fast dreieinhalb und wir spielen schon das eine oder andere Spiel.
    Bisher habe ich ihn zwar ein bisschen frei mit den Bbrettspielen spielen lassen, war aber immer bemüht, ihn an die Regeln heran zu führen.
    Wir haben über 300 Spiele zu Hause und da ich nicht immer sagen möchte "dieses oder jenes Spiel ist noch nichts für Dich, da muss man schon in die Schule gehen", habe ich oft Regeln verändert, damit er ein für ihn interessantes Spiel mitspielen konnte.
    Dieser Text hat meinen völlig Blick verändert. Gleich nach dem Frühstück wird er sich ein Spiel aus dem Regal aussuchen dürfen und wir spielen einfach damit.
    Ich bin gerade so glücklich, dass mit die Tränen kommen.
    Gerade in diesem Moment sehe ich meine Spiele mit den Augen eines Kindes.
    Welche Abenteuer stecken in den Spielen Tikal und Niagara…
    Das Labyrinth wird bei uns heute definitiv auf dem Tisch stehen…
    Ich hoffe sehr, dass dieser Artikel viele Eltern zum umdenken bewegen wird

  4. Irma, das ist schön zu hören.
    Das trifft genau das Ziel, dass ich hoffe zu erreichen. Eltern neue Perspektiven aufzuzeigen, die sie dann selbstständig weiterverfolgen können und Einsichten zu präsentieren, die hoffentlich einen intuitiven Anteil berühren, der in jedem vom uns schlummert.

    Ich wünsche dir eine gelingende Weiterreise auf dem Abenteuerweg Elternschaft und viele tolle und bereichernde Spiel-Momente mit deinem Kind.

  5. so haben wirndas immer gemacht und machen es noch. schön das mal so zusammengefasst zu lesen! meine kinder und ich sind große pipifans und machen uns die welt so wie sie uns gefällt. natürlich gehören spielregeln da dazu 😁 liebe grüße aus österreich °anna°